Zum 50. Jubiläum haben die Lateinamerika Nachrichten gemeinsam mit anderen Organisationen und Einzelpersonen vier Umweltaktivist:innen aus Chile nach Deutschland eingeladen. Auf mehreren Veranstaltungen und im Gespräch mit LN erzählten die Aktivist:innen von Modatima (Movimiento de Defensa por el acceso al Agua, la Tierra y la Protección del Medioambiente) von ihren aktuellen Kämpfen für den Zugang zu Wasser in Chile, Eindrücken von der Reise und davon, was Deutschland nicht nur im Kampf gegen Wasserprivatisierung von Chile lernen kann.
Jorge Díaz, Catalina Huerta, Carolina Vilches und Victor Bahamonde sind in der chilenischen Wasser- und Umweltorganisation Modatima aktiv. Diese gründete sich 2010 in der Avocado-Anbauregion Petorca und ist nun landesweit aktiv. Ziel der Reise nach Deutschland war es, das internationale Netzwerk der Bewegung auszubauen.
50 Jahre nach dem Militärputsch stimmt der Verfassungsrat in diesen Tagen über die Normen für den neuen Verfassungsentwurf ab. Wie blickt ihr auf diesen Prozess?
Catalina: Was dort entworfen und verabschiedet wird, könnte am Ende sogar schlimmer aussehen als die Verfassung von Pinochet. Der Klimawandel wird im Prozess nicht berücksichtigt. Die Ultrarechte, die im Rat dominiert, leugnet ihn und stellt sogar grundlegende Menschenrechte in Frage. Für öffentliche Güter wie Flussufer und Auen, die bisher nie privatisiert waren, sollen nun Konzessionen vergeben werden. Deshalb setzen wir so gut wie keine Hoffnung in den Prozess. Er setzt unsere Forderungen von den Protesten im Oktober 2019 nicht um.
Das klingt fast so, als wäre es besser, wenn der Entwurf beim Verfassungsplebiszit im Dezember abgelehnt wird?
Jorge: Ich sehe tatsächlich einen Vorteil, wenn die Verfassung von 1980 bleibt, denn sie ist bereits delegitimiert. Damit würden sich für die Zukunft gewisse Spielräume öffnen. Deshalb finde ich es wichtig, dass der Rechazo (dt. Ablehnung) im Dezember gewinnt.
Catalina: Eine wichtige Aufgabe für uns als Bewegungen wird es sein, das Ergebnis des ersten Verfassungsplebiszits von 2020 zu bekräftigen, in dem man sich gegen die Pinochetverfassung ausgesprochen hatte. Der Plebiszit im Dezember wird auch ein wichtiger Moment für die politischen Kräfteverhältnisse und für die Regionalwahlen nächstes Jahr.
Was würde ein Sieg des Rechazo für die Rechte bedeuten?
Victor: Es gibt nicht die eine Rechte, sie ist gespalten. Die Ultrarechte mit der Republikanischen Partei bringt alle wichtigen Themen ihres politischen Entwurfs in die Verfassung ein. Für sie ist es eine Win-Win-Situation: Entweder gewinnt das Ja – dann gewinnt ihre Position – oder es gewinnt das Nein und Pinochets Verfassung bleibt in Kraft.
Welche Aussicht bleibt dann noch auf die Abschaffung der Diktaturverfassung?
Victor: Ich denke das einzige, das uns dann bleibt, wäre eine Verfassungsreform. Aber mit dem aktuellen Kongress ist das sehr schwierig, es müsste zu einem anderen Moment geschehen. Fürs Hier und Jetzt bleibt uns der Weg des Protests.
Catalina: Genau. Derzeit bilden wir uns politisch weiter und wollen wachsen – qualitativ und quantitativ.
Modatima ist nicht nur auf der Straße aktiv, sondern auch in politischen Institutionen?
Victor: Ja, in der Kombination von Basisarbeit und dem institutionellen Weg auf lokaler Ebene sehen wir eine große Stärke. Zum Beispiel in den Regionalregierungen, im Fall der Region Valparaíso mit unserem Gouverneur Rodrigo Mundaca. Hier arbeiten wir daran, die Verwaltung des Wassers innerhalb des rechtlichen Rahmens zu demokratisieren.
Was hat Rodrigo Mundaca als Gouverneur seit Juli 2021 erreicht? Welche Befugnisse hat er?
Victor: In allen Provinzen der Region werden derzeit Flussgebietsräte als runde Tische eingerichtet. Dort beteiligen die Menschen sich zum ersten Mal an Entscheidungen zum Thema Wasser. Die Regierung plant, solche Räte über ein Gesetz zukünftig landesweit einzurichten. In der Region von Valparaíso funktioniert das bereits, allerdings ohne gesetzliche Grundlage. Außerdem wurden Bildungsprogramme für Führungspersonen in den Trinkwassergenossenschaften der Region geschaffen. Das Trinkwasser auf dem Land ist das einzige Wasser, das nicht privatisiert, sondern öffentlich und gemeinschaftlich ist.
Carolina: Rodrigo Mundaca hat im kommenden Jahr die Möglichkeit, der Agorechi – der Gouverneursvereinigung Chiles – vorzusitzen. Dadurch könnte er deutlich stärker auf die landesweite Politik einwirken. Abgesehen davon sind die Stärkung der Umwelt- und genossenschaftlichen Trinkwasserinstitutionen, der Bürger:innen und die finanzielle Stärkung der Gemeinden wichtig. Dadurch gibt es heute wieder deutlich mehr Vertrauen in die Politik und Institutionen – das war vor dem estallido social von 2019 undenkbar.
Und doch verhindert der Wasserkodex aus Diktaturzeiten mehr Gerechtigkeit beim Zugang zu Wasser. Gab es hier in den vergangenen Jahren Fortschritte?
Carolina: Am 25. März 2022 wurde die jüngste Reform des Wasserkodexes beschlossen. Alle Eigentumsrechte an Wasser, die nach diesem Datum vergeben werden, haben keine unbegrenzte Laufzeit mehr. Personen, die bereits Eigentumsrechte an Wasser besitzen, müssen diese neu einschreiben lassen, wofür jedoch genug Wasser verfügbar sein muss. Da das häufig nicht der Fall ist, wird das dazu führen, dass in Zukunft weniger Eigentumsrechte an Wasser existieren. Wo zukünftig bei Wassermangel Konflikte entstehen, wird die Wassergeneraldirektion tätig und kann das Wasser neu verteilen. Das war im Flussbecken des Aconcagua bereits der Fall.
Mit Dürresommern und Unwettern ist der Klimawandel auch in Deutschland zu spüren. Unterschätzen wir die Probleme, die es bald auch hier mit der Wasserversorgung geben könnte?
Victor: Ich denke, in den reichen Ländern wird das Thema Wasser immer noch nicht als Problem wahrgenommen. In diesem März hat in New York zum ersten Mal seit 50 Jahren eine Weltwasserkonferenz stattgefunden. In diesen 50 Jahren hat sich das Weltwasserforum, eine von Privatunternehmen finanzierte Institution, jedes Jahr getroffen. In den entwickelten Ländern gibt es genug Wasser für Bevölkerung und Unternehmen. Wir in Chile sind nach 40 Jahren Wasserprivatisierung bei dem Extrem angekommen, dass es Wasser für die Reichen gibt, aber nicht für die Armen. Wir fordern, dass dem Wasser fortan die Bedeutung zugeschrieben wird, die es auf der Welt hat. Und wenn man von Klimawandel spricht, darf es nicht nur um Temperaturanstiege gehen, man muss die Verfügbarkeit von Süßwasser miteinbeziehen. In Chile werden bereits Menschen wegen des Klimawandels vertrieben, weil es zu wenig Wasser gibt. Und jetzt kommen noch neue Industriezweige wie Lithium oder grüner Wasserstoff dazu, die ebenfalls große Mengen Wasser brauchen.
Gleichzeitig werden diese Rohstoffe als zentral für die Energiewende angesehen. Wie blickt ihr auf dieses Dilemma?
Jorge: Beim Lithium ist die Rede von grüner Energie, aber seine Gewinnung ist extrem verschmutzend und kostet viele Ökosysteme in den Abbauländern das Leben. Gleichzeitig ist Lithium ein flüchtiger Rohstoff, denn wenn in 20 oder 25 Jahren bessere Energiequellen kommen, wird Lithium zu teuer sein. Das Gleiche ist mit den Deutschen und dem Salpeter passiert: Salpeter war einst die Lösung für alles, mein Vater hat in der Gewinnung gearbeitet, mein Großvater auch. Irgendwann kam das synthetische Salpeter und hat alles ersetzt. Das Problem ist auch die fehlende Wissensvermittlung: Wir gewinnen das Lithium, aber die Batterien stellt ihr her. Uns bleiben am Ende nur die Umweltkatastrophen.
Victor: Für die Energiewende haben die reichen Länder ihre Pläne bis 2030. Länder wie Deutschland müssten bei Vertragsabschlüssen nicht nur darauf achten, das billigste Lithium oder den billigsten Wasserstoff zu kaufen, sondern auch darauf, wie diese Rohstoffe erzeugt werden können, ohne das Leben der benachbarten Gemeinschaften zu beeinträchtigen. Und sie müssen die Variable Wasser miteinbeziehen.
Was kann die Welt und was können wir von der Situation in Chile lernen?
Carolina: Zu was führen denn der Konsum und der Export aus den so genannten "Opferzonen" (Anm. d. Red.: von massiver Verschmutzung durch Industrie betroffene Regionen)? Wir sehen, wie Menschen im Avocado-Anbaugebiet ohne Wasser leben, obwohl es Wasser gibt – aber die Agrarindustrie nimmt es uns weg. Und Deutschland geht in Lateinamerika auf Rohstoff-Einkaufstour und will Freihandelsabkommen schließen, um unsere Territorien zu plündern. Wir haben gelernt, dass dies nicht nachhaltig und weder für Investitionen noch für den internationalen Handel sicher ist. Denn es zerstört unseren Wasserkreislauf. Ich glaube, die einzige Gegenstrategie besteht darin, Allianzen zu bilden, das Bewusstsein zu schärfen und Aufklärung zu betreiben, um zu verstehen, dass in Chile heute Investitionen wichtiger sind als Menschenrechte. Dabei geht es nicht nur um eine Änderung der Technologie, sondern um eine Änderung des Lebensstils und des Verbrauchs von Ressourcen.
Jorge: Die ganze Natur, die Wälder, die Ozeane, die Flüsse, sind in großem Umfang geplündert worden. Wenn die reichen Leute und Länder sich dessen nicht bewusst werden und den unnötigen Konsum reduzieren, werden wir mit Lateinamerika und Afrika am Ende ihre Hinterhöfe zerstören. Wir müssen also der Bevölkerung beibringen, dass man mit dem leben muss, was man hat, auch wenn das ziemlich schwierig ist.
Vielen Menschen fällt es schwer, ihren Lebensstil zu ändern. Was denkt ihr, auf welche sozialen Probleme sollten wir uns einstellen, wenn auch hier das Wasser knapp wird?
Victor: Wir erleben bereits einen Krieg um Wasser: Es gibt Gebiete, in denen die Menschen kein Trinkwasser haben, auf die Straße gehen und sich mit der Polizei anlegen und denen, die das Wasser haben. Dieses angeblich so ferne Zukunftsszenario ist in Chile und an einigen Orten in Afrika längst eingetreten. Als Modatima ist es unsere Aufgabe, betroffene Gemeinschaften zu organisieren, Kritik zu üben und die Fragen zu stellen, um die sich die Regierungen nicht sorgen. Wir Chilen:innen und andere kommen aus der Zukunft, in der es Kriege um Wasser gibt. Und Länder wie Deutschland, in denen es bisher keine Wasserprivatisierung gibt, könnten wie Chile enden.
Während der Veranstaltungen in Berlin habt ihr die Idee einer Internationalen des Wassers erwähnt. Worum geht es dabei?
Carolina: Es geht dabei um Solidarität: Es gibt etwas, das über ein Projekt wie Modatima hinausgeht, wie bei den ALBA-Bewegungen oder der Landlosenbewegung MST. Wir sind bereit, über eine internationale Bewegung für Wasser Macht aufzubauen, die auf Solidarität und ihrer Bedeutung für die Menschheit basiert, die eindeutig Grenzen überschreitet.
Victor: Seit der Gründung von Modatima sind wir mit anderen großen und kleinen Bewegungen zusammengetroffen, die sich mit denselben Themen beschäftigen: die Rondas Campesinas in Peru, Afectados por Represas in Brasilien, Ríos Vivos in Kolumbien und die Coordinadora Agua para Todos in Mexiko. In den lateinamerikanischen Ländern wird der Kampf um Wasser bereits stark geführt, aber es gibt auch die europäische Wasserbewegung, zu der wir Beziehungen unterhalten. Ich denke, das ist ein Projekt auf lange Sicht. Zum Beispiel mit der Bewegung der von Staudämmen betroffenen Menschen (MAR) in Lateinamerika. Wir haben die Idee, eine globale Bewegung für Wasser und Energie aufzubauen, eine Art Via Campesina bezogen auf Wasser und Energie, die sich weltweit Verbündete sucht – MAR arbeitet bereits seit zehn Jahren in diese Richtung.
Hat diese Reise nach Deutschland euch dahingehend weitergebracht?
Catalina: Diese Reise war sehr bereichernd, um einen Horizont für den Erfahrungsaustausch zu schaffen, auch dafür, den Kampf um das Wasser zu internationalisieren. Vor allem war es interessant, dass die Themen Wasserstoff und Lithium so oft zur Sprache kamen. Wir nehmen diese neuen Herausforderungen der Energiewende an und die dringende Aufgabe mit, sie tiefer in die Bewegung einzubringen.
Jorge: Ich hätte nicht gedacht, dass es hier in der Gegend einen Konflikt mit Tesla gibt, bei dem Leute ihr Wasser in Gefahr sehen. Es hat meine Aufmerksamkeit erregt, dass auch hier Menschen sich für diese Themen mobilisieren und territorial denken. Wir fühlen uns also mit ihnen verbunden und freuen uns darüber.
Victor: Ich finde es sehr wichtig, sich nach einer Pandemie wieder persönlich mit Menschen austauschen zu können, die auf der gleichen Wellenlänge sind, um uns gegenseitig zu stärken. Und Medien wie eure Zeitschrift tragen viel dazu bei, durch Information Verbindungen und Netzwerke aufzubauen und Meinungen auszutauschen.
Carolina: Ich denke, es war 50 Jahre nach dem Putsch eine Reise voller Erinnerung für uns, aber auch eine Reise voller Zukunft: darüber, wie wir uns unser Land erträumen, was wir von eurem Land erwarten, was wir von unseren Kontakten erwarten. Es war nach dem Scheitern des Verfassungskonvents eine heilende Erfahrung. Für mich bleibt davon der Wunsch und die Erwartung, eine Gemeinschaft aufzubauen und mit einer Internationalen des Wassers voranzukommen.
Das Interview erscheint in den Lateinamerika Nachrichten Nr. 593
Author: Michael Castillo
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